Nachwehen
Aradil schwebte im leeren Raum. Er hatte die Augen geschlossen, die Arme um den Leib geschlungen und die Beine angezogen. Er lauschte in sich selbst hinein, vernahm den Klang seines langsam schlagenden Herzens. Da war es, dumpf, rhythmisch, aber beständig. Er war allein mit sich. Dann atmete er aus, presste den letzten Rest Luft aus seiner Lunge und verharrte erneut. Deutlicher noch vernahm er jetzt sein Herz. Er spürte es in seinem Brustkorb pochen. „Du lebst noch!“, pflichtete ihm eine Stimme in seinem Verstand bei. Es war die Stimme einer Frau. Für ein paar Sekunden genoss er die friedliche Stille und das Säuseln in seinem Kopf, das ihm versicherte, noch er selbst zu sein.
Als er wieder aus dem eiskalten Bad auftauchte, setzte das übliche Dröhnen schlagartig wieder ein. Er hatte den Eindruck, als spielte jemand Orgel in seinem Verstand und der Melodie nach zu urteilen, hatte dieser jemand kein musikalisches Talent. Er kniff die Augen zusammen und schirmte das Restlicht von Archerus, mit seinen blau und grün brennenden, nekromantischen Fackeln, ab. Irgendwo stampfte rasselnd ein untotes Konstrukt vorbei und gluckerte dabei ekelerregend. Für einen Sterblichen war Archerus eine der unangenehmsten Erfahrungen, die man machen konnte. Die schwarze Klinge hielt es offenbar nicht für nötig, ihren Anhängern einen angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen. Überdies schienen diese sich auch nicht viel aus Komfort zu machen und langsam begriff Aradil auch, warum. Es war die dräuende Stimme eines kalten, toten Wahns, die immer und immer wieder an den Gedanken zerrte. Auch Aradil hörte diese Stimme nun seit geraumer Zeit. Anfangs hatte er es versucht, zu verdrängen, dann hatte es sich mit aller Macht Bahn gebrochen und sich in jede Lücke eingenistet, die nicht besetzt war. Wer brauchte ein Bett, wenn man nicht schlief?
Anders als beim Wahnsinn der Leere, die die Gedanken mit tausenderlei Visionen möglicher Vergangenheiten und Zukünfte ausfüllte, verschlang das Flüstern des Todes jeden Gedanken und hinterließ einen Fetzen des Gefühls, der mit ihm verwoben war. Kälte kroch stattdessen hinein und so hatte Aradil das Gefühl, sein Herz gefror zu einem emotionslosen Klumpen Fleisch.
Das monotone Summen der Nekropole, das Stöhnen der verdammten Seelen und das Gurgeln der minderen Kreaturen, die herumwankten, waren Ausdruck dieses Gefühls von emotionaler Taubheit. Und wäre er bereits untot, so hätte ihn dies vermutlich nicht einmal allzu sehr gestört. Er kannte die Disposition der meisten Untoten und er verstand das Schicksal, dass die Verlassenen in ihrem Namen angenommen hatten. So ging es allen Opfern des Lichkönigs und seiner Magie. Doch Aradil war ein Lebender unter Untoten. Er trug ihre Rüstung, er schwang ein runenbewehrtes Schwert und sein Körper hatten ebenso einen nicht unerheblichen Anteil jener Magie aufgenommen, die den Todesrittern das unheilige Leuchten ihrer schwelenden Augen gab. Das kalte Ziehen in seinem Schädel kündigte Aradil von derselben Veränderung seines Antlitzes und je mehr er diese Magie zur Entfaltung brachte, umso näher kam er dem Dasein eines Todesritters.
Aber noch war es nicht um ihn geschehen. Es war ihm gelungen, mehrere Anker in seinen Verstand zu schlagen. Der Brief, der ihm erst just zugegangen war, hatte sich dabei so fest in ihn gebohrt, dass er zu einem neuen Fundament des Widerstands geworden war. Aradil hatte seine Mission fast beendet, er war praktisch an seinem Ziel angelangt und nur eine einzige Tat verhinderte eine Rückkehr in die Welt der Lebenden und zu jenen, die sich seiner noch erinnerten. Die Vorstellung davon verschaffte ihm Linderung und machte die Orgel in seinem Kopf dumpfer. Wenigstens war Jiastanna in Sicherheit. Der Tod des alten Orcs hatte ihr zugesetzt, aber Aurelia hatte sich ihrer angenommen und tat, was er in diesem Augenblick nicht tun konnte - Trost spenden.
Ein einziger Akt des Grauens, dann wäre er befreit von dieser ständigen Marter, die an Körper und Geist zerrte, wie tollwütige Hunde an einem frischen Kadaver. Er hatte seine Präsenz auf dem Haupt der Welt geduldig hingenommen, doch in den letzten Zügen spürte er, seinem Ziel nahe, die Ungeduld stärker aufwallen, als je zuvor. Sylvanas war fort, Bolvar enthront und der Himmel über der Eiskrone zerschlagen. Nur noch der vermaledeite Pestrufer! Nathanos Marris, dieser elende Hund! Und dann, endlich, würde seine lange ersehnte Rast beginnen. Er hatte ein Mittel gefunden, sich selbst sein Gleichgewicht zurückzugeben, vor langer Zeit, im Land der Nebel…
Unterdessen…
Ruzon hatte die gesuchte Elfe erspäht. Beinahe wäre ihr Körper wie eine überreife Melone auf dem Pflaster der Straße aufgeplatzt.
Mit einem beherzten Griff, warf er den Arm um ihren Oberkörper und hielt ihr dann sein Messer an die Kehle.
„Pssst. Er hat dein’n Brief g’kriegt. Er lässt ausricht’n, dass er noch was zu erledig’n hat, im verdammt’n Pilzwald. Danach sollst’n im Wald mit d’n grün’n Stang’nbäum’n such’n geh’n. Er meint, du weißt schon wo…“
Seine rasselnde Stimme ließ noch ein heiseres Lachen zurück, dann verschwand der kalte Atem aus ihrem Genick in der Dunkelheit, aus der er so plötzlich gekommen war.