Östliche Königreiche, Insel der Sonnenwanderer, Schrein von Dath'Remar, 23. Tag im 3. Monat
Der Moment in welchem die Priesterin – ihr bekannt als Tenebra – die Lichtkreis beschworen hatte, war tief in Oryczys Gedächtnis gebrannt. Die Einladung zur Lichtmesse hatte die Garde nur verzögert in Orgrimmar erreicht, dennoch war der Kommandant der Idee nicht abgeneigt, kurzfristig nach Silbermond zu reisen, um dann der Messe beiwohnen zu können. Von der Idee äußerst angetan, hatte Oryczy sich entschieden ihn zu begleiten, und einer spontanen Eingebung folgend hatte sie auch Cruenta von den Ältesten eine Nachricht zukommen lassen.
Die Kleiderwahl war ihr dann seltsam leicht gefallen, denn anders als sonst hatte sie den Drang, eine helle Robe zu wählen. Leichter Stoff, ein lockerer heller Mantel, keine Waffen. Und so waren sie dann losgezogen, hatten den Nachmittag mit einer gemächlichen Anreise zum Schrein verbracht und spätestens mit Durchquerung der Tore von Silbermond und dem Eintritt in den Immersang konnte auch Oryczy aufatmen. Eine Spur Vorfreude war da, die für sie nicht ganz verständlich war, war ihr doch der Lichtglaube im eigentlichen Sinne nicht vertraut. Dennoch hallte in ihr eine altbekannte, warme Resonanz, die mit der Erinnerung an ein Heilritual vor einigen Jahren einher ging. Damals hatte sie gespürt was „Licht“ eigentlich bedeutete, und darin eine Wahrhaftigkeit erkannt, die sie tief beeindruckt hatte.
Die Wirkung des frischen, in Rot und Gold getauchten Immersang tat sein übriges, um die Stimmung während des Ritts zu entspannen. Auch die Gegenwart einer Fremden, die sich später als Karui vorstellte, störte dies nicht. Beim Schrein angekommen waren sie dann zum ersten Mal seit Monaten wieder Tenebra begegnet, sah man einmal von dem flüchtigen Blick in der Pagode ab, welchen Oryczy mit der Priesterin getauscht hatte.
Und dann hatte Tenebra zu sprechen begonnen, und alle – wirklich alle – waren in respektvollem Schweigen versunken. Kein lästiges Getuschel wie sonst, wenn so viele sich an einem Ort versammelten, keine bedeutungsschwangeren Gesten, kein Geraschel. Nur diese angenehme, klare Stimme, die von Hoffnung sprach, von Zukunft, von Zusammenhalt. Und dann war es als würde etwas Oryczys Seele berühren, sie bloß legen und in diese nahezu unerträgliche Helligkeit tauchen, schützend einhüllen und ganz ausfüllen. Was auch immer sie vermisste, was sie plagte, oder was ihr Sorgen bereitete wurde hinweggeschwemmt von gleißendem Licht. Ihre Wahrnehmung schränkte sich einzig auf dieses ein, der Schrein verschwand, die Zuhörer verschwanden, und auch Veneanar schien nicht länger neben ihr zu stehen. Dass sie mit geschlossenen Augen schwankend da gestanden hatte wurde ihr erst klar, als Cruenta ihren Arm ergriff um sie zu halten. Es war als hätte man ihr eine Ohrfeige versetzt und sie zurück auf den harten, kalten Boden der Realität gerissen, was sie im ersten Moment einfach nur unendlich verwirrt zurück ließ. Tief berührt und im Prinzip noch völlig neben sich stehend war sie dann nahezu willenlos ihren Begleitungen gefolgt, als diese sich zur Abreise bereit machten.
Als sie so viel später endlich wieder allein in vertrauter Umgebung war, ließ sie die Messe noch einmal Revue passieren. Mit ungewohnter Klarheit war die Erinnerung in ihrem Kopf geblieben, und ein Hauch dieses warmen Gefühls begleitete die Bilder vor ihrem geistigen Auge. Es war wahrhaftig schön, aber in seiner unirdischen Art nur schwer greifbar für sie. Sich dieses Gefühl bewahrend schloss sie die Augen und schlief ein. In dieser Nacht gab es keine Träume, nur die erholsame Leichtigkeit des gleißenden Nichts.