Shattrath, Unteres Viertel, 8. Tag im 11. Monat
Das Chaos auf Oryczys eindeutig zu kleinem Schreibtisch näherte sich mit der Zeit einem kritischen Zustand. Es stapelten sich Marschbefehle, Frontberichte, Spähberichte und Lieferlisten neben Finanzinformationen und dem persönlicheren Briefverkehr der Verwaltung mit den Ratsmitgliedern, so denn diese außerhalb des Hauptquartiers waren. Zu viel. Einfach. Viel. Zu. Viel.
Mit einem ergebenen Seufzen zog sich die Sin'dorei einen der größeren Stapel heran und begann, diesen durchzugehen. Die Zeit schien - wie üblich wenn sie sich so in die Arbeit vertiefte - plötzlich schneller zu laufen und aus dem ewigen Trüb des Tages wurde Zwielicht, wurde Dunkelheit. Schließlich fiel ihr ein Pergament in die Hand, welches sich durch seine zahlreichen Eselsohren und Knicke als eines älteren Datums auszeichnete. Neugierig überflog sie den Text, der in ihrer eigenen Handschrift verfasst worden war. Mit jeder weiteren Zeile schienen ihre Gesichtszüge bekümmerter. Der Empfänger des Briefes war Selca, Häuptling der Hüter der Erde. Und er hatte das Hauptquartier der Garde nie verlassen.
Nur vage erinnerte sich Oryczy zurück an Veneanars Ablehnung ihrer Idee, bei dem sich bildenden Widerstand die Hüter der Erde mit einzubeziehen. Also hatte sie lediglich zum Anduri Stamm Kontakt aufgenommen, doch so vielversprechend das Gespräch mit Zirchà auch verlaufen war, so enttäuschender war das darauf folgende Schweigen aus dem Dschungel. Der Kommandant war stets misstrauisch, aber im Falle von Selca war das Misstrauen auch begründet, nämlich mit deren Haltung zum Gipeltreffen, welches vergangenen Herbst noch in Orgrimmar stattfand. Ein Jahr war dies nun her.. so vieles hatte sich geändert.
Zunächst war der Widerstand nur eine Idee gewesen, dann eine kleine Gruppierung, eine Splittergruppe von Personen, die sich gegen Garrosh zu stellen gedachten. Oryczy selbst hatte sich daran beteiligt, hatte an der Schädigung von Garroshs Nachschüben geplant und gemeinsam mit Jiastanna Sonnengleiter Brandbriefe gegen die Kriegshäuptling optimiert. Bis zu dem Tag wo man nicht mehr ignorieren konnte, dass dritte Parteien im Spiel waren, und es Verräter innerhalb der Gruppierung geben musste.
Zugunsten der Sicherheit der Garde - wie auch ihrer eigenen - hatte sie sich zurückgezogen, wie sich auch die Garde aus Orgrimmar zurückziehen musste. Die Garde der Dunklen Fürstin hatte ihre Hauptsitz nach Shattrath verlegt, eine Entscheidung die sich als absolut richtig herausgestellt hatte. Nur kurze Zeit später war Orgrimmar endgültig in den festen Händen der Kor'kron, welche rücksichtslos jegliche Gegenstimmen zum Schweigen gebracht hatten und die staubigen Straßen mit Blut tränkten.
Es zeigte sich bald, dass die kleine Gruppe Widerständler nicht die einzige war. Es gab zahlreiche, und je grausamer Garrosh urteilte, umso weniger versteckte man sich mit seinem Gedankengut. Es war nicht gänzlich geklärt, was genau der zündende Funke gewesen war, der aus dem schwelenden Groll eine offene Konfrontation hatte werden lassen. Innerhalb kürzester Zeit wurde das nördliche Brachland zum Schauplatz eines Guerillakrieges, der mehr und mehr in geordnete Bahnen gelenkt wurde und die Kor'kron gen Durotar trieb, bis man schließlich vor den Toren Orgrimmars stand.
Als diese Meldung das Hauptquartier in Shattrath erreichte, hielt den Kommandanten nichts mehr in der Scherbenwelt. Er war förmlich versessen darauf, das alte Hauptquartier zurück zu erobern, stellte sich eine kleine Spezialeinheit für diese Mission zusammen und machte sich auf die Reise.
Dies war nun schon Wochen her, und die einzige Nachricht war jene, dass die Truppen in Orgrimmar eingefallen waren. Es war still geworden im Hauptquartier, da die meisten Gardisten im Kampf um Orgrimmar oder in der Privatmission der Garde unter dem Kommando Veneanars unterwegs waren. Oryczy sorgte sich nicht um die Einheit. Auch wenn Assimya - die Teil der Spezialeinheit war - bei weitem keine so exzellente Portalmagierin war wie Jiastanna, so sollten doch ihre Fähigkeiten genügen um einen zügigen Rückzug zu ermöglichen. Oder wenigstens eine Nachricht zu senden...
Der Gedanke der Sin'dorei wurde von dem hellen Lachen eines Draenei-Mädchens unterbrochen, welches gemeinsam mit einem Trolljungen und einem Sprössling der Menschen am Hauptquartier vorbeitollte. Kurz ruhte der Blick aus den felgrün schimmernden Augen auf den Kindern, der alte Brief an Selca glitt leise raschelnd in den Papierkorb. Ob diese Generation Frieden in der Welt erleben würde? Sie wünschte es ihnen. Wünschte ihnen einen Erhalt jener kindlichen Unbeschwertheit, jenes naiven Glücks, dessen Bewahrung mit dem Sturz des irren Kriegshäuptlings beginnen würde...
(c) 08.11.13 by Oryczy