Einige Zeit später streifte Neralya noch immer mit dem Geschwisterpaar durch den Immersangwald.
Luchse hatte sie noch keine gesichtet, dafür hatte Kejael ihr bereits einige der schönsten Pflanzenarten der Umgebung gezeigt. Er kannte sich gut mit Pflanzen aus und Neralya hing ihm jedes Mal an den Lippen, sobald er sein Wissen teilte, wenn es auch nur die Namen der jeweiligen Blumen waren.
Ill, die eigentlich Ilyreth hieß, hatte schnell erkannt, dass Nera „offensichtlich eine Stadtelfe“ war und daraufhin mit einer Mischung aus Neid, Argwohn und Bewunderung reagiert, ohne den Versuch, eine dieser Emotionen zu verbergen.
Wenig später hatte sie sich aber bereits unter Neras Arm eingehakt und davon gesprochen, dass sie beide zusammen unbedingt den Basar von Silbermond besuchen mussten. Im Gegenzug dafür brachte Ill ihr das "Bogenschießen" bei, wenn auch nur mithilfe ihres Spielzeugbogens mit seinen stumpfen Pfeilen und deren gepolsterten Spitzen.
So jagten die Mädchen abwechselnd den armen Kejael mit ihren Pfeilen, bis er mit neuen Blüten „sein Leben erkaufte“.
Ilyreth übernahm den Schutz von Neras Puppe, wann immer diese mit Schießen an der Reihe war. Ill fand die Puppe wunderschön und Neralya war glücklich, dass ihre geliebte Puppe kein vollends peinliches Spielzeug abgab – im Gegenteil.
In Ruhepausen ließ Ilyreth die Puppe tanzen und sang dabei mit ihrer wunderschönen Stimme thalassische Lieder.
Neralya erinnerte sich nicht mehr, wann sie zuletzt soviel Spaß gehabt hatte. Wahrscheinlich noch nie zuvor in ihrem Leben.
Daher vergaß sie auch die Zeit und schließlich waren die drei Hochelfenkinder - im Spiel vertieft - am Strand gelandet.
Neralya sah – und hörte – in diesem Augenblick zum ersten Mal das Meer.
„Ohhhh!“, staunte sie und stand wie angewurzelt mit offenem Mund da.
Ilyreth schenkte ihr kurz einen sehr verwirrten Blick, doch dann verstand sie.
Sie legte Bogen und Puppe an eine sichere Stelle, griff dann nach Neras Hand und riss sie mit, als sie im nächsten Moment freudig kreischend losstürmte und dem Meer entgegenrannte, Nera immer knapp hinter ihr.
Kejael folgte den beiden lachend – ins kühle Nass. „Ihhh, Kalt!“, quietschte Nera erschrocken, doch Ilyreth spritzte sie nur noch weiter nass. „Wozu haben wir denn ewigen Frühling hier?“, fragte sie grinsend „Stell dich nicht so an!“
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie sich an die Temperatur des Wassers gewöhnt hatten und ihre Spiele fortsetzten. Kejael weitete sein Beuteschema aus und tauchte zwischendurch immer wieder nach Muscheln.
„Siehst du den Turm dort am Horizont?“, fragte Ilyreth Nera aufgeregt.
„Das ist der Windläuferturm. Dort lebt die Windläuferfamilie! Du hast bestimmt schon von den Windläufer-Schwestern gehört, allesamt begabte Waldläuferinnen!“
Nera beäugte interessiert Ills glänzende Augen, sie schienen noch heller zu leuchten als sonst.
Ilyreth löste nach einer Weile den sehnsuchtsvollen Blick vom Turm und wandte sich wieder Nera zu.
„Wenn ich erwachsen bin, dann werde ich Waldläufergeneralin!“, erklärte sie selbstbewusst. Ihr Bruder, der gerade prustend aus den Wellen aufgetaucht war, prustete bei diesen Worten noch stärker und Ilyreth strafte ihn mit einem eiskalten Blick.
„Und du? Du wirst Botaniker, während ich die stolze Anführerin der Weltenwanderer werde!“, machte sich sich über Kejael lustig.
„Botaniker?“, fragte Neralya verwirrt und interessiert zugleich.
„Na, so Kram mit Blumen.“, sagte Ilyreth und schloss das Thema damit ab.
„Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass der Frühling hier ewig währt“, erklärte Kejael selbst mit einem kleinen Lächeln.
„Was wirst du, wenn du groß bist?“, fragte er dann.
Neralya stockte. „Magistrix…“, sagte sie, aber bei dem Wort fielen ihr siedend heiß Red, ihre Lehrbücher und ihre Eltern ein.
Die Geschwister sahen sie beide ziemlich beeindruckt an und löcherten sie mit einigen Fragen, die es aber nicht in Neras besorgten Geist schafften. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sich der Himmel bereits rot färbte und sie ihrem Zuhause bereits viel zu lang ferngeblieben war.
„…Ich… Ich glaube, ich sollte wieder nach Silbermond zurück.“, stotterte Nera. Doch Kejael und Ilyreth blickten zu ihrer Überraschung nicht enttäuscht oder gelangweilt, sondern verständnisvoll.
„Oh Weh, wir sind ja echt weit von Silbermond weg geraten.“, sagte Ilyreth und sah zur untergehenden Sonne. Sie bemerkte Neras panischen Blick.
„Keine Sorge. Unser Heimatdorf ist nicht weit entfernt. Wir borgen uns einen von Mutters Falkenschreitern und bringen dich über befestigte Wege wieder zur Stadt.“, schilderte Ilyreth ihren Plan.
Der Plan ging nicht vollständig auf.
Als die drei in Goldnebel, dem Heimatdorf der Geschwister ankamen, erwartete sie bereits eine Hochelfe mit derselben rotbraunen Haarfarbe wie Ilyreth und Kejael.
Mit in die Hüften gestemmten Armen erwartete die Elfe ihre Kinder.
„Wo steckt ihr zwei Quälgeister bloß den ganzen Tag?!“, rief sie ihnen entgegen.
Betroffen schob Ilyreth ihr Kinn nach vorne.
„Mutter, das ist Neralya! Sie ist eine Magistrix aus Silbermond. Sie ist meine neue Freundin und wird mich Anstand lehren, so wie du es dir immer wünschst!“, säuselte sie und schob Neralya vor sich, wie ein Schild.
Kejael versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken und ahmte Ilyreths betroffenen Gesichtsausdruck nach.
„Neralya muss jetzt wieder nach Silbermond zurück.“, erklärte Ill, „wir wollten einen Falkenschreiter nehmen, weil…“ – Ilyreth und Kejaels Mutter schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Kommt gar nicht in Frage.“ Die Hochelfe bemerkte die Panik in Neralyas Augen und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.
„Ich werde einen Falkenschreiter nehmen und dich zurückbringen.“, sagte sie. Dann wurde ihre Stimme wieder streng.
„Ilyreth, Kejael, ab ins Haus. Wir reden später.“
Ilyreth schenkte Neralya zum Abschied ihren Bogen. Sie schien ehrlich traurig über die folgende Trennung zu sein.
„Du bist echt in Ordnung!“, sagte sie und ging eilig ins Haus.
Kejael verneigte sich vor Nera, schenkte ihr eine glänzende Muschelperle und wurde ein wenig rot.
„Es war sehr schön mit dir. Besser als allein mit Ill.“ Er lachte. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder!“
Nera konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr sie diese Hoffnung teilte.
Die Mutter der beiden, die sich als Ellarie vorstellte, hob sie in den Sattel des purpurnen Falkenschreiters, den sie in der Zeit des Abschieds zwischen den Kindern geholt hatte und nahm hinter ihr Platz.
Dann machten sie sich auf den Weg.
Nera blickte zurück und sah die Silhouetten der Geschwister vor der erleuchteten Eingangstür winken. Sie hob die Hand und erwiderte den Abschiedsgruß, bis sie sich durch die vielen Bäume aus den Augen verloren.